Das Personal fehlt: Daher müssen die Kinder bald woanders spielen. Bild: Nerea Lakuntza
Die Kita Nezabudka 1 ist in wenigen Wochen Geschichte. Denn die Geschäftsführerin findet kein Personal mehr, das ihren Vorstellungen von Qualität entspricht.
Von Florentine Fritzen
Ein Kindergarten schließt. Wie kann das sein? Er liegt mitten in Frankfurt, dort verzweifeln Eltern auf der Suche nach einem Platz, obwohl die Stadt die Betreuung ausbaut. Trotzdem werden die Mädchen und Jungen des Kindergartens Nezabudka 1 kurz vor den Sommerferien zum letzten Mal durch den Kletterschacht aus hellem Holz kraxeln, der die beiden Stockwerke ihrer Kita verbindet. Sie werden sich zum letzten Mal unter der Wandmalerei von Elternhand zum vegetarischen Mittagessen versammeln, zum letzten Mal Mittagsschlaf in den Stockbetten halten. Danach wird der Kindergarten Geschichte sein. Auf Deutsch bedeutet sein Name Vergissmeinnicht.
Die Geschichte beginnt vor 15 Jahren. Julia Zabudkin lebt da schon ein Jahrzehnt in Deutschland, 1996 ist sie aus der Ukraine gekommen. Inzwischen hat sie kleine Kinder und fände es schön, wenn die einen bilingualen deutsch-russischen Kindergarten besuchen könnten. Weil es den in Frankfurt nicht gibt, wagt es Zabudkin, selbst einen zu gründen. Als sie den Mietvertrag in Bockenheim bekommen hat, richtet sie ihre erste Kita ein, Nezabudka 1. Erzieherinnen helfen beim Aufbau des Kletterschachts.
Personalmangel
Inzwischen betreibt Zabudkin fünf Kitas in der Stadt. Dass die Geschäftsführerin die erste Gründung jetzt wieder schließt, hat mit ihren Ansprüchen an die Qualität zu tun. Zabudkin findet kein Personal mehr, das denen genügt. Leute wie Mira Gloos. In deren Büro sitzt Zabudkin an diesem Morgen bei Tee, Kaffee und Hafermilch. Draußen vor dem Fenster gibt ein Vater sein Kind am Eingang nebenan ab. Gloos hat vor 14 Jahren als Anerkennungspraktikantin bei Nezabudka angefangen. Inzwischen leitet sie den Kindergarten. Wenn er schließt, zieht sie mit einigen Mitarbeitern und Kindern in Nezabudka 5 im Westend um. Andere wechseln in Nezabudka 2, fünf Minuten entfernt. Zehn kommen in die Schule.
Die beiden Frauen beschreiben, wie die Bewerbungsgespräche abliefen. Entweder passe es aus ihrer eigenen Sicht nicht oder nicht aus der Sicht der Kandidatin, des Kandidaten. Mit anderen Bewerbern seien sie sich schon fast einig, aber dann scheitere es am Geld. Vor zwei Wochen habe sich eine Frau vorgestellt, die außer im Studium noch nie Erfahrungen in der Praxis gesammelt habe. „Für weniger als 4000 Euro Gehalt wollte sie keinen Fuß in eine Kita setzen, und sie sagte: Andere Träger bieten mir das an.“ Gut 3000 Euro bekommen Einsteiger nach Tarif. In den Berufsfachschulen werde angehenden Erzieherinnen angesichts des Fachkräftemangels mitunter ein falsches Bild vermittelt, sagt Zabudkin. „Viele kommen nicht mehr mit der Einstellung, dass Berufsanfänger Lernende sind, sondern in der Überzeugung: Wir sind die Könige, und wir können schon alles.“ Gloos ergänzt, vielen fehle das Feuer für den Beruf.
Um herauszufinden, ob jemand geeignet ist, stellen die Nezabudka-Verantwortlichen auch persönliche Fragen, zum Beispiel nach der Kindheit. Manchen Bewerbern sei das „zu nah, zu viel“. Aber sie wollen vermeiden, dass wieder passiert, was im Sommer vor einem Jahr geschehen ist. Zabudkin beschreibt es so: Eine Erzieherin durfte früher selbst nicht während der Schlafenszeit zur Toilette gehen. Sie verbot das auch den Nezabudka-Kindern, wenn sie „Schlafwache“ hielt. Eine Kollegin duldete das Verhalten stillschweigend. Als Kinder das ihren Eltern erzählten, erfuhr die Kita-Leitung davon. Sie informierte das Stadtschulamt wegen des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung. Das Amt prüfte den Fall, wie das zuständige Bildungsdezernat bestätigt, gemeinsam mit dem Träger eingehend, anschließend trennte sich Zabudkin von drei Erzieherinnen. Sie sagt: „Ich wüsste keine Kita, wo solche Dinge nicht geschehen.“
Hohe Nachfrage nach einem Kitaplatz
Seitdem arbeiten in Nezabudka 1 drei statt sechs Kolleginnen, statt 40 Kindern können nur noch 25 kommen. Dabei hat Zabudkin nach eigenen Angaben jede Menge Interessenten. „Wenn es nur nach den Kinderzahlen auf der Warteliste ginge, könnten wir gleich fünf weitere Kitas öffnen.“ Stattdessen wolle sie sich nun zunächst mit den verbleibenden vier konsolidieren. In die Räume mit dem Kletterschacht könnte eine neue Kita einziehen. Beim Vermieter hätten sich schon Interessenten gemeldet. Zabudkin will kein Personal, das Kinder nur beaufsichtigt und achtgibt, dass sich keiner verletzt. Oder auf ein Berufsleben hofft, in dem man bloß ein bisschen basteln muss und ansonsten herumsitzt. „Es darf nicht nur um Aufbewahrung und Betreuung gehen.“ Das ist ihrer Meinung nach aber Alltag in vielen Kitas, auch in Frankfurt. Sie selbst legt dagegen viel Wert auf Bildung: Sprache, Bücher, Kultur, Musik, Theater, Draußensein.
Wer bei Nezabudka als Erzieherin anfangen will, muss nicht Russisch können. Der bilinguale Kindergarten arbeitet mit der Immersionsmethode, auch bekannt als Sprachbad: Wie in einer zweisprachigen Familie reden manche Bezugspersonen immer deutsch, andere immer russisch. Die meisten der Drei- bis Sechsjährigen aus ganz Frankfurt haben einen russischsprachigen Hintergrund. Wenn eine Familie schon lange in Deutschland lebe, sei es ihr eher wichtig, dass das Kind viel Russisch spreche, die Kultur kennenlerne, sagt Zabudkin. Wer erst frisch im Land sei, hoffe dagegen darauf, dass es im bilingualen Kindergarten auch viel Deutsch höre und spreche. Nezabudka steht aber auch Kindern offen, deren Eltern sie mit der „exotischen“ Sprache Russisch vertraut machen wollen – ohne eigenen Migrationshintergrund.
Handlungsbedarf
Zabudkin klagt die Politik an. Sie fordert ein Auswahlverfahren für Erzieher. Eine Kampagne für mehr Wertschätzung des Berufs, der auch einen neuen Namen verdient habe, Kindheitspädagogin zum Beispiel. „Erzieher kommt von ziehen. Wer will schon ziehen?“ Die Ausbildung müsse auf Hochschulniveau angehoben werden, das Gehalt nach Tarifvertrag sei zu gering, um in Frankfurt mit einer Familie davon zu leben. Es sei auch ein falsches Signal, wenn der Kita-Besuch wie in Frankfurt unentgeltlich sei. Vor allem aber denkt Zabudkin, dass die Verantwortlichen den Eltern gegenüber zugeben müssten: Angesichts des rasanten Kita-Ausbaus können wir nicht versprechen, dass ihr gute Qualität bekommt. „Was ist das für eine Gesellschaft, in der alles darauf fokussiert ist, einen Krippenplatz zu ,ergattern‘?“
Vor der Sprossenwand im Turnraum proben die Vorschulkinder ein Stück für das Abschiedsfest. Es beruht auf dem Bilderbuch „Der Schneemann sucht eine Frau“. Die Auszubildende mimt den Schneemann, die Kinder drücken ihr Kühlpacks an den Leib. Sie singen auf Russisch zum Klavierspiel der Musikpädagogin, folgen den Ansagen der Fachkraft für sprachliche Bildung. Jedes Kind hält einen Stab in die Höhe, auf dem ein Tier steckt oder ein Himmelsgestirn. Es gibt eine Bühne wie beim Kaspertheater.
Dann geht es ins Obergeschoss. Wer nicht die Treppe nehmen will, klettert durch den Schacht, auch Erwachsene passen durch. In den Gruppenräumen spielen Kinder Uno und Memory. Andere ziehen ihre Portfolios aus dem Regal, blättern darin, erinnern sich. Die Ringbuch-ordner voller Fotos erzählen von der Kindergartenzeit, vom ersten Tag an. Nach den Sommerferien kommen neue Bilder hinzu – aus Nezabudka 2 oder 5.